Morgen kommt der Weihnachtsmann
Ernst von Dohnányis «Variationen über ein Kinderlied»European Union Youth Orchestra
03/08/2024Am 3. August 2024, ist das European Union Youth Orchestra gemeinsam mit der Pianistin Isata Kanneh-Mason in Grafenegg zu hören. Das jüngste Residenzorchester Grafeneggs spielt unter der Leitung von Iván Fischer. Auf dem Programm stehen Ernst von Dohnányis Variationen über ein Kinderlied für Klavier und Orchester und Gustav Mahlers erste Symphonie.
Ernő Dohnányi, der 1877 noch in der habsburgischen Doppelmonarchie zur Welt gekommen war, im damals ungarischen Pozsony oder Preßburg, dem heute slowakischen Bratislava, sollte sich in Ungarn eine unangefochtene musikalische und musikpolitische Vormachtstellung erwerben: Er leitete als Chefdirigent das Philharmonische Orchester Budapest, amtierte als Musikalischer Direktor des Ungarischen Rundfunks und der Königlich-Ungarischen Musikhochschule, gehörte als Senator dem Oberhaus des Parlaments an und empfing mit der Corvinus-Kette die höchste Auszeichnung des Landes für Künstler und Wissenschaftler.
Dass ihm aber all diese Ehren unter dem autoritären Regime des Reichsverwesers Miklós Horthy zuteilwurden, in einem Staat von völkisch-nationalistischer und nicht nur offen, sondern sogar offiziell antisemitischer Ausrichtung, setzte ihn nach dem Zweiten Weltkrieg ins Unrecht. Im kommunistischen Ungarn traf ihn der Bann, sein Name und seine Werke verfielen dem angeordneten Vergessen; aber auch im Westen musste er einen rapiden Ansehensverlust ertragen.
Dohnányi verbrachte seine letzten Lebensjahre erst im argentinischen, danach im US-amerikanischen Exil. Er starb 1960 in New York. Doch sollte gerechterweise nicht verschwiegen werden, dass er die jüdischen Musiker in seinem Orchester vor der Entrechtung und Entlassung schützte und 1941 seinen Direktorenposten an der Hochschule aufgab, als sich Ungarn bis ins Innerste dem nationalsozialistischen «Dritten Reich» unterwarf. Dass der Name Dohnányi mit höchstem Respekt genannt wird, liegt in allererster Linie an dem Sohn des Komponisten, dem Juristen Hans von Dohnanyi, der sich dem Widerstand gegen Hitler anschloss und im Konzentrationslager Sachsenhausen umgebracht wurde. Seine Söhne, Ernős Enkel, sollten im Nachkriegsdeutschland eine prominente Rolle spielen: der Politiker Klaus und der Dirigent Christoph von Dohnányi.
Ein Alleskönner von sympathischer Selbstironie
Anders als seine jüngeren Landsleute Béla Bartók und Zoltán Kodály, die übers Land reisten, Volkslieder sammelten und aus der ältesten Musik die fortschrittlichsten Konsequenzen zogen, blieb Ernő Dohnányi von diesem Aufbruch, dieser musikalischen «Wiedergeburt» unberührt. Ihn reizten weder die archaischen noch die avantgardistischen Perspektiven der Tonkunst, er stand der Nationalromantik ebenso fern wie der radikalen Moderne. Bezeichnenderweise steuerte Bartók zum Jubiläumskonzert der Budapester Philharmonie im Oktober 1933 «Fünf ungarische Volkslieder» bei, Kodály die «Tänze aus Galánta» und Dohnányi — die «Symphonischen Minuten», in denen Folklorismus allenfalls als aparte exotische Note oder couleur locale zu entdecken ist. Wenn überhaupt.
Dohnányi komponierte für seine Philharmoniker fünf brillante, solistisch profilierte Stücke, ein Orchesterporträt, das die Jubilare effektvoll und glamourös in Szene
setzte, ein raffiniertes, unterhaltsames, schwelgerisches und humoristisches Potpourri. In ein paar Minuten erprobt Dohnányi die symphonischen Spielräume
und erweist sich bei diesem rasanten Parcours als ein undogmatischer Geist und musikalischer Weltbürger. Und als ein Alleskönner von sympathischer
Selbstironie.
«Variationen über ein Kinderlied»
Diese gewitzte Souveränität im Umgang mit der Musik und ihren Mythen (und der eigenen Meisterschaft) hatte Dohnányi, als müsste er sich für seine heitersten Werke immer die finstersten Jahre der Geschichte aussuchen, bereits 1914 an den Tag gelegt: mit den «Variationen über ein Kinderlied» für Klavier und Orchester C-Dur op. 25. Dohnányi lebte seinerzeit noch in Berlin, lehrte als Professor an der Königlich Akademischen Hochschule, und dort, in seiner damaligen deutschen Wahlheimat, brachte er die Variationen auch wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 17. Februar 1914, zur Uraufführung.
Er selbst, ein gefeierter Mozart-, Beethoven- und Brahms-Interpret, spielte den ebenso kniffligen wie wetterwendischen Solopart. Das Konzertstück beginnt mit einem Vorspiel wie zu einem wagnerischen Weltuntergangsdrama: Die Trompeten des Jüngsten Gerichts erschallen, der Weltenbrand lodert auf, und in diese musikalische Apokalypse mischt sich auch noch der markerschütternde Paukendonner aus Brahms’ übermächtigem d-Moll-Klavierkonzert.
Aber Dohnányi stellte seinen Variationen eine Warnung voran, eine inoffizielle Widmung: «Freunden des Humors zur Freude, den Anderen zum Ärger.» Schon mit der düsteren Introduktion legt Dohnányi die erste falsche Fährte, lockt seine Hörerschaft mit Pomp und Pathos in die Falle und wartet mit einer wunderbaren Pointe auf. Denn nach einem kurzen Zirkustusch präsentiert die Pianistin ein völlig undramatisches und unerwartet harmloses Thema, das jeder kennt und sogleich mitpfeifen könnte.
«Twinkle, twinkle, little star»
Dieses «Kinderlied» entstand ursprünglich als galantes Schäferspiel, eine französische Romance, über die schon Mozart 1781 Klaviervariationen geschrieben hatte. «Ah, vous dirai-je Maman / Ce qui cause mon tourment? / Depuis que j’ai vu Silvandre / Me regarder d’un air tendre / Mon cœur dit à chaque instant: / ‹Peut-on vivre sans amant?›», fragt eine verliebte Schäferin ihre Mutter. «Ach, soll ich Ihnen sagen, Mutter, was mich quält? Seitdem ich gesehen habe, wie Silvandre mich so zärtlich anschaut, fragt mein Herz mich immerzu: ‹Kann man ohne Geliebten leben?›»
Auch in der deutschsprachigen Fassung des populären Liedes dreht sich alles um einen sehnlichst erwünschten Herrenbesuch: Allerdings wird in dieser Version nicht der schlimme Silvandre erwartet, sondern — «Morgen kommt der Weihnachtsmann». In England aber singen Alt und Jung auf dieselbe schlichte Weise das sternenfunkelnde Wiegenlied «Twinkle, twinkle, little star».
Musikalischer Spaß
Ernő Dohnányi variiert das international bekannte und zeitlos eingängige «Kinderlied» bis zur völligen Unkenntlichkeit. Wie ein Joker kann das Thema für jeden Stil, jede Farbe, jeden Charakter und jedes Temperament einstehen. Alles sieht ihm ähnlich (Glenn Gould sprach von einem «parodistischen Konzertkommentar»). Es klingt wahlweise nach Brahms, Liszt, Tschaikowski oder Rachmaninow, nach dem «Zauberlehrling» von Dukas oder dem «Karneval der Tiere» von Saint-Saëns, tanzt Wiener Walzer, paradiert zu einem grotesken Marsch, verwandelt sich in eine Spieluhr, vergeht vor Weltschmerz, greift in die Trickkiste endlos hochgeschraubter Steigerungen, stimmt einen feierlichen (aber zugleich veralberten und merkwürdig modernistisch verfremdeten) Choral an — und liegt zwischenzeitlich doch
ziemlich desolat und demoliert am Boden. Zu guter Letzt aber erfreut oder ärgert Dohnányi sein Publikum noch mit einem Fugato, der kontra punktischen Krönung seiner Variationen. Bei Licht besehen: eine Persiflage auf den sprödesten Stoff der akademischen Lehrbücher und obendrein ein maliziöser musikalischer Spaß. Das letzte Wort aber erhält wieder das kinderleichte Thema: zum doppelbödigen Happy End einer hintersinnigen Maskerade und hemmungslosen Typenkomödie.
Gute Unterhaltung!