Ein Paukenschlag und viele Konzerte
Von Gershwin zu SchumannVeröffentlicht: 08/08/2024
Das Grafenegg Festival 2024 beginnt mit einem Paukenschlag. Oder eigentlich gleich mehreren Paukenschlägen. Und es endet mit einem Paukenwirbel, der aber im Gegensatz zum Paukenschlag am Anfang nicht allein erklingt, sondern mit Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern, Trompeten, Posaunen und Streichern gemeinsam. Die Pauke spielt bei allen Orchesterkonzerten im Festival mit, nur bei der Matinee des Kammerorchesters Wien – Berlin schweigt sie. Doch für den Moment genug von der Pauke! In zehn ganz knappen Essays stimmen wir Sie auf ein paar Musikstücke ein, die Sie während der Festival-Wochen 2024 in Grafenegg erleben werden.
1. Eine Pauke am Anfang
Und da ist sie schon wieder, die Pauke: Es sind mehrere Paukenschläge, mit denen George Gershwin sein Concerto in F für Klavier und Orchester so verheißungsvoll beginnen lässt. Übrigens eines der Lieblingskonzerte von Rudolf Buchbinder, dem es ganz besonders am Herzen und in den Fingern liegt.
George Gershwin wollte 1925 seinem Auftraggeber Walter Damrosch, den musikbegeisterten New Yorker:innen und vor allem sich selbst beweisen, dass er ein klassisches Klavierkonzert schreiben kann, mit allem Drum und Dran. Die ersten Takte der knapp einminütigen Orchestereinleitung seines Konzerts sind als große Fanfare gestaltet. Damit kündigte er in mehrfacher Weise etwas Großartiges an: ein außergewöhnliches Klavierkonzert – und selbstverständlich auch den Solisten, sich selbst, damals, bei der Uraufführung vor 99 Jahren in New York.
Und tatsächlich: Ein leiser werdender Wirbel der kleinen Trommel, und der Pianist setzt ein. Diese ersten Takte des Klaviers wirken wie ein Geistesblitz, der auch prompt einschlägt: Das Thema setzt sich als Ohrwurm fest, und was sonst noch alles damit passiert, ist nicht weniger großartig. Sie erinnern sich: Die 1924 uraufgeführte «Rhapsody in blue» hat der amerikanische Dirigent, Komponist und Arrangeur Ferde Grofé orchestriert. Beim Concert in F hatte sich der Auftraggeber ausgebeten, dass Gershwin selbst die komplette Orchestrierung übernehmen sollte. Der wollte das aber ohnehin, weil er wusste, dass er im «klassischen» Musikbusiness nur ernstgenommen wird, wenn er auch das Orchester beherrscht, und es gelang ihm ein Glanzstück an origineller Instrumentierung, mit dem er sich als Orchestrator umgehend vom Lehrling zum Meister mauserte.
2. Freunde
George Gershwin verband eine besondere Künstlerfreundschaft mit Arnold Schönberg. So sehr sich ihre Musik auch unterschied, so sehr schätzten einander diese beiden Giganten der frühen Moderne. Gershwin kam zuerst durch seinen Klavierlehrer Charles Hambitzer mit der Musik Schönbergs in Berührung. Hambitzer war einer der ersten Schönberg-Interpreten in den USA.
Schönberg lehrte bis September 1933 in Berlin an der Preußischen Akademie der Künste. Die barbarische Politik der Nationalsozialisten führte zum Verlust seiner Professur, woraufhin Schönberg zuerst nach Paris ging, den noch Ende des 19. Jahrhunderts abgelegten jüdischen Glauben aus Protest gegen den Rassenwahn der Nazis wieder annahm und kurze Zeit später in die USA emigrierte.
Dort lernte er auch George Gershwin kennen, die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch. Gershwin bewohnte damals eine Luxusvilla in Hollywood, wo er als Filmmusikkomponist – mit entsprechend hohen Gagen – arbeitete. Gershwin gehörte zu jenen Menschen, die ihr Leben lang immer weiter lernen wollten, auch für Kunst außerhalb ihres Bereichs brannten. Es war ihm allerdings nicht vergönnt, seinen kompositorischen Weg allzu weit zu gehen: Mit 38 Jahren war es auch schon wieder vorbei, er starb auf der Höhe seiner Kunst an einem Gehirntumor.
Ausgerechnet der Ahnherr der Zwölftonmusik, Arnold Schönberg, sprach für einen amerikanischen Radiosender einige Worte über George Gershwin.
Warum Schönberg? Ja, die beiden hatten zueinander gefunden, sie mochten sich, verstanden sich sogar prächtig, spielten Tennis zusammen, fachsimpelten über ihre gemeinsame Leidenschaft, die Malerei: Gershwin fertigte sogar ein Porträt von Schönberg an, das heute in der Library of Congress in Washington aufbewahrt wird. Und die Entwicklungen der Medientechnik faszinierte beide ebenso: Gershwin filmte Schönberg im Garten seiner Villa in Beverly Hills mit der Kamera, kurz: Die beiden Komponisten aus der Alten und der Neuen Welt waren Freunde. Bei seinem Radiostatement nach Gershwins frühem Tod sprach Schönberg über den Musiker Gershwin, der nicht nur für die amerikanische Musik Großes geleistet habe, sondern für die Musik der ganzen Welt. Und dass er persönlich nicht nur um einen großen Komponisten, sondern auch um einen liebgewonnenen Freund verloren habe.
3. Bruckners Erste sollte seine Letzte sein
2024 ist durch die 150. Wiederkehr seiner Geburt nicht nur ein Schönberg-Jahr: Anton Bruckner erblickte 1824 das Licht der Welt, sein 200. Geburtstag wird 2024 ebenso ausgiebig feiert. Gleich drei Bruckner-Symphonien stehen in diesem Festivalsommer am Programm: Am 17. August spielt das Gstaad Festival Orchestra die 7. Symphonie, am 30. August das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks die 4. Symphonie, und am 4. September widmen sich die Wiener Philharmoniker der Wiener Fassung der 1. Symphonie.
Bruckner arbeitete viele seiner Symphonien ja mehrfach um, daher existieren auch meist mehrere Versionen. Seine 1865/66 in Linz entstandene und 1868 ebendort ohne große Resonanz uraufgeführte und danach zu seinen Lebzeiten nicht mehr gespielte Symphonie Nr. 1 unterzog Bruckner 1890/91 einer Überarbeitung:
4. Bruckner und der Glaube
Um Anton Bruckners Musik ein wenig besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick in seinen religiösen Alltag, wie Rainer Lepuschitz weiß:
«Viele Kirchenjahre durchlebte Anton Bruckner als junger Mann im Stift St. Florian, wo er auf der Orgelempore maßgeblich zur sakralmusikalischen Gestaltung der Gottesdienste beitrug und im barocken Ambiente die katholischen Kirchenfeste und Liturgien intensiv feierte. In der Kirchenvorhalle unter der Chor- und Orgelempore erinnerte ihn das Gethsemane-Fresko stets an die Todesgeschichte Christi, die jedes Jahr in der Karwoche nicht nur liturgisch, sondern auch in der Musik zum Ausdruck kam. Bezeichnenderweise wünschte sich Bruckner im Alter, unter der Kirchenvorhalle und der Orgelempore begraben zu werden. So geschah es dann: Der Sarkophag mit Bruckners Leichnam steht quasi in einer Linie und einige Meter unter dem Instrument, auf dem Bruckner auf der Orgel die musikalische Liturgie spielte und in seinen bald weit über St. Florian hinaus berühmten Improvisationen seine komplexe musikalische Fantasie entfaltete. 1855 wurde er als Domorganist nach Linz berufen, 1868, als er nach Wien übersiedelte, um eine Professur für Musiktheorie und Orgelspiel anzutreten, nahm er gleichzeitig das Amt des Hoforganisten an.
Bruckner befand sich täglich im Dialog mit dem Gott seines Glaubens, er betete Vaterunser, Rosenkranz, Ave Maria, Salve Regina und Gloria Patri, zeichnete sein Leben lang diese Gebete akribisch in einem eigenen Heft dafür auf. Was uns heute als übertriebene Frömmigkeit Bruckners, ja Manie vorkommen mag, entsprach aber durchaus der Lebensweise der Gläubigen im Österreich jener Zeit. Da führten die meisten Menschen auch Buch über ihre Gebete. Wie sie dies in Bruckners Leben taten, nehmen Gebete auch in seiner Musik eine unverzichtbare Stellung ein. Nach seinen großartigen Messkompositionen (in d-Moll, e-Moll, f-Moll) ging in weiterer Folge seines kompositorischen Schaffens das Leben des Komponisten in Gott und mit dem Glauben vor allem in seine Symphonien ein. In dieser musikalischen Form fand Bruckner die passende Dimension vor, um die Unfassbarkeit, ja Unermesslichkeit Gottes darzustellen. In den Symphonien befinden sich zahlreiche hymnische Themen und Harmonien, Choräle und Andachtsmusiken. Die spirituelle Skala in der Symphonik Bruckners reicht von erschütternder Todesangst bis zu beseelter Hoffnung auf ein ewiges Leben.»
Rainer Lepuschitz
5. Mozart und Rimski-Korsakow
Das hatte es zuvor noch nicht gegeben! Mit seiner Oper «Mozart und Salieri» wählte Nikolai Rimski-Korsakow 1898 ausgerechnet zwei Kollegen und Vorgänger zu Titelhelden eines Bühnenwerks. Hintergrund waren die hartnäckigen Gerüchte, dass Wolfgang Amadeus Mozart von seinem Rivalen Antonio Salieri vergiftet worden sei und nur deshalb im Alter von bloß 35 Jahren schon sterben musste. Der russische Dichter Alexander Puschkin griff diese Theorie, die heute längst widerlegt ist, 1832 in einer «kleinen Tragödie» auf; Rimski-Korsakow selbst formte die Vorlage zu einem Opernlibretto aus. Dabei charakterisierte er Salieri als fleißigen Handwerker, während er Mozart mit allen Kennzeichen des gottbegnadeten Genies versah. Klar, wem Rimski-Korsakows Sympathien gehörten.
Mozart und Rimski-Korsakow: Im Konzert des hr-Sinfonieorchesters am 24. August treffen ihre Werke direkt aufeinander. Mozart, der genuine Theaterkomponist, ist mit fünf Ausschnitten aus seinem musikdramatischen Schaffen zu erleben, aus komischen wie aus ernsten Opern. Sie beleuchten die Abgründe der Seelenwelt, führen uns aber auch ins buffoneske Treiben seiner unsterblichen Komödien.
Rimski-Korsakow, der im Bühnenmetier ebenfalls höchst erfolgreich war, ist dagegen mit seinem berühmtesten Werk vertreten, der symphonischen Suite «Scheherazade». Obwohl hier nicht gesungen wird, ist auch diese Tondichtung ein verkapptes Musikdrama, das die exotische Welt der Märchen aus «Tausendundeiner Nacht» heraufbeschwört: mit dem blutrünstigen Sultan Schariar und der verführerischen Erzählerin Scheherazade als Hauptfiguren. Und mit einer Musik, wie sie raffinierter und klangprächtiger nicht instrumentiert sein könnte. (Susanne Stähr)
6. Luigi Nono und die Fiat-Fabrik
Der deutsche Musikjournalist Gerardo Scheige hat sich mit «La fabbrica illuminata» beschäftigt. Luigi Nono hat darin 1964 einen heute immer noch brandaktuellen Stoff verarbeitet:
Orientierung ist ein wesentlicher Anker menschlichen Handelns. Ohne sie bleibt alles richtungs- und ziellos, ohne sie kommt das Ich allmählich abhanden, verschwimmen dessen Konturen. Ebendieses Gefühl vermittelt der Beginn von Luigi Nonos «La fabbrica illuminata» für Sopran und vierspuriges Tonband aus dem Jahr 1964: Wie aus der Ferne hebt sich die Singstimme aus einem nicht genau lokalisierbaren Chor empor und kündet von Pein, Ausbeutung, gar Tod, während das Gemurmel der Vielen zunächst unverständlich bleibt. Sofort fällt der Kontrast zwischen Individuum und Masse auf, der hier zum musikalischen Motor wird. Was vermag eine Gruppe zu bewirken, in der zugleich jede Einzelstimme hörbar bleibt? Was dient dem Wohl aller, ohne das persönliche Glück aus dem Blick zu verlieren? Und was kann Musik in diesem Zusammenhang leisten?
Mit der letzten Frage hat sich der 1924 in Venedig geborene und 1990 ebenda gestorbene Luigi Nono intensiv beschäftigt und seine Musik dezidiert in einem politischen Sinne verstanden. Das im Mailänder Studio di Fonologia Musicale realisierte «La fabbrica illuminata» bildet keine Ausnahme. Mehr noch: Darin lässt Nono Fabrikarbeiter selbst zu Wort kommen. Den Anstoß lieferte eine dokumentarische Publikation, die den Alltag und die Sorgen der Menschen in italienischen Fertigungsbetrieben in den Blick nimmt, wie der Komponist 1972 gegenüber dem Musikjournalisten Hartmut Lück erläuterte:
«Ungefähr 1962/63 wurden in italienischen Fabriken, bei FIAT in Turin und anderen, Umfragen gemacht, die dann auch in Buchform erschienen: Man befragte Arbeiter und ließ sie direkt sprechen über ihre Arbeits- und Lebensbedingungen. Ich las das damals, und es war für mich ziemlich neu, die Produktionsbedingungen in einer Fabrik aus dieser Sicht kennenzulernen: Ich hatte auch gleich die Idee, ein Stück darüber zu machen.»
Ein Kompositionsauftrag für das Eröffnungskonzert des Genueser Prix d’Italie erwies sich als willkommener Anlass, so Nono weiter:
«Es wurde vereinbart, daß ich drei Tage lang in die große Metallurgiefabrik ‹Italsider› in Genua gehen würde, um dort Aufnahmen zu machen: Ich wollte mit Arbeitern und Gewerkschaftlern sprechen, d. h. nicht nur unter uns diskutieren, sondern Aufnahmen der Worte und des akustischen Raums der Fabrik machen. Wir sprachen über die Arbeitssituation, die physische Beanspruchung, die ideologischen Konsequenzen, den Klassenkampf der Arbeiter.»
Tief beeindruckt vom Unbehagen der interviewten Arbeiter wählte Nono einzelne Statements aus, die im Rahmen des Werks regelrecht zu existenziellen Slogans werden, beispielsweise «Fabbrica dei morti la chiamavano» (Sie wird die Fabrik der Toten genannt), «Relazioni umane per accelerare i tempi» (Human Relations, um das Tempo zu beschleunigen) oder «Quanti minuti-uomo per morire?» (Wie viele Minuten braucht ein Mensch zum Sterben?). Darüber hinaus verwendete er auch Passagen eines Gewerkschaftsvertrags sowie literarische Texte von Giuliano Scabia (1935 — 2021) und Cesare Pavese (1908 — 1950), die die Grundlage der vier Werkteile bilden.
Im Einklang mit dem Kompositionstitel erhellt das sprachliche Material die anonyme Fabrikhalle und erweckt sie zum Leben, verleiht ihr aber zugleich ein düsteres Antlitz. Auf musikalischer Ebene arbeitet Nono neben den Wortbeiträgen hauptsächlich mit drei Quellen: aufgenommene Maschinengeräusche (insbesondere der Hochöfen), Gesangsstimme und elektronische Klänge. Während der Arbeiterchor geisterhaft aus den Lautsprechern ruft und vom Sopran veredelt wird, ähneln Elektronik und Geräusche einer scharfen, zum Kampf bereiten Klinge. Durch die engmaschige Zusammenführung aller Elemente gelingt Nono zweierlei: Einerseits vermischen sich die Äußerungen und die Klangereignisse zu einem vielschichtigen Band, das den konkreten Ausgangpunkt Italsider buchstäblich zum Nicht-Ort, zur Utopie werden lässt. Andererseits gibt er den ungehörten Fabrikarbeitern mit «La fabbrica illuminata» eine lautstarke und nachhallende Stimme.
7. Edward Elgar und Jaqueline du Pré
«Finis. R.I.P.»: So schrieb Edward Elgar an den Schluss seines Cellokonzerts. Im Jahr 1919 fertiggestellt und uraufgeführt, ist es das wohl persönlichste, am engsten mit der Biografie des Komponisten verbundene Werk: wehmütige Erinnerung, elegischer Abgesang und bewegende Totenklage um die Opfer des Ersten Weltkriegs zugleich. Es sollte Elgars letzte große Schöpfung bleiben, wenngleich er bei der eher glücklosen Premiere des Werks erst 62 Jahre alt war: Der Tod seiner Frau 1920 ließ seine Kräfte versiegen, er zog sich immer mehr zurück.
Wirklich populär und weltberühmt wurde sein Cellokonzert aber erst durch eine Plattenaufnahme: 1965 ging der berühmte britische Dirigent Sir John Barbirolli mit der damals 20-jährigen britischen Cellistin Jacqueline du Pré ins Studio: Gemeinsam schrieben sie Schallplattengeschichte, ihre Einspielung zählt bis heute zu den Referenzaufnahmen. Später schien sich der schmerzliche Ausdruck der Musik aufs Innigste mit dem persönlichen Schicksal der Cellistin zu verbinden: Die damalige Frau des Pianisten und Dirigenten Daniel Barenboim erkrankte als 26-Jährige an Multipler Sklerose, musste das Cellospiel mit 28 Jahren aufgeben und starb mit 42 Jahren. Und so scheint diese Musik bis heute mit der Interpretin, die den Komponisten nie kennengelernt hatte, untrennbar verbunden.
8. Konzertante Oper als Gastspielpremiere
Bayreuth, 1876: Richard Wagner stellt seinen «Ring des Nibelungen» im neuen Festspielhaus in Bayreuth vor. Der Beginn eines Kults, und der Anfang einer einmaligen Orchestertradition. Das Bayreuther Festspielorchester speist sich aus den besten Musiker:innen der großen Opern- und Symphonieorchester, die den weltweit einzigartigen Wagner-Klang pflegen.
Orchester verlassen in regelmäßigen Abständen ihren Heimathafen und tragen ihren jeweils spezifischen Klang und ihre Besonderheit in die Welt: Bis 2024 hat es gedauert, aber am 29. August ist es so weit: Das Bayreuther Festspielorchester gibt unter Pablo Heras-Casado das erste Österreich-Gastspiel seiner Geschichte.
Harald Haslmayr schreibt über das Programm:
«Eine konzertante Aufführung von zentralen Ausschnitten aus der ‹Walküre› bietet die seltene Gelegenheit, sich weniger auf die Handlung des Werkes konzentrieren zu müssen oder in banger Verkniffenheit wundersame Regie-Einfälle zu decodieren, sondern kann den Fokus auf die mythisch-menschheitsgeschichtlichen Quellen und Einflüsse lenken, die das Drama durch und durch bestimmen. Dabei ist es von nicht zu überschätzender Bedeutung, dass Richard Wagner mitten in der Arbeit an der ‹Walküre› erstmals Arthur Schopenhauers Hauptwerk ‹Die Welt als Wille und Vorstellung› studierte, und dies nicht weniger als in gleich vier enthusiastischen Lektüredurchgängen.
Aus dieser Perspektive öffnet sich der Blick auf den mythisch ‹tiefen Brunnen der Vergangenheit› (Thomas Mann), aus dem Wagner ingeniös zu schöpfen vermochte: So zeigt sich das eröffnende Gewitter in seiner Nähe zum altchinesischen ‹I Ging›, die Weltesche sowie das Schwert Nothung können nicht nur im nordischen Erbe, sondern auch bei Hesiod und Sophokles verortet werden; die Buddha-Natur Wotans zeigt sich in überraschender Klarheit, die traditionelle Lehre von den vier Elementen, in diesem Fall der Luft im ‹Walkürenritt» und dem Feuer in Loges Kreis um den Brünnhildenstein, wird zur kompositorischen Realität gestaltet. Und am Schluss des Werkes zeigt sich der innere Zusammenhang zwischen Abschied und mythischem Wiederholungszwang, wenn das so genannte ‹Abschiedsmotiv› Wotans im Orchester binnen nicht einmal zehn Minuten nicht weniger als 80 Mal wiederholt wird! Darüber hinaus ermöglicht das Fehlen eines Bühnenbildes einen Fokus der Aufmerksamkeit auf Wagners Kunst zu lenken, mittels gestischer Klangfarben aus dem Orchester szenische Handlungsabläufe durch rein musikalische Mittel zu generieren.»
Harald Haslmayr
9. Erhitzte Gemüter, süffiger Klang
Kaum mehr begreiflich ist heute, dass Arnold Schönbergs spätromantisch-süffiges Streichsextett «Verklärte Nacht», entstanden 1899, seinerzeit noch die Gemüter erhitzt hat – mit seiner über Richard Wagners «Tristan und Isolde» noch hinausgehenden Harmonik und der Verwirklichung eines außermusikalischen Programms, nämlich des gleichnamigen Gedichts von Richard Dehmel, im Genre der Kammermusik. Dehmels Worte schildern die Aussprache eines Liebespaares bei Mondschein, bei der die Frau ein Geständnis macht: Bevor sie ihrem Begleiter begegnet sei, habe sie keine Beziehung, wohl aber «Mutterglück und Pflicht» gesucht und dafür mit einem Fremden geschlafen; nun sei sie schwanger und bereue ihr Tun. Der Mann beruhigt sie jedoch und versichert sie, ihre Liebe werde «das fremde Kind verklären» und zu ihrem gemeinsamen machen. Mit Streichorchester aufgeführt, erhöht sich für heutige Ohren der opulente Reiz dieses Werks noch weiter.
10. Ein Paukenwirbel am Schluss
1841 brachte Robert Schumann eine Symphonie zu Papier, in rekordverdächtig kurzer Zeit, wie er so oft seine Werke in einem regelrechten Schaffensrausch in unglaublicher Menge und Qualität schuf. Am 6. Dezember 1841 dirigierte Ferdinand David im Leipziger Gewandhaus die Uraufführung, allerdings vor einem teilweise ratlosen Publikum. Was war geschehen? Schumann hatte mit einer neuartigen Konzeption seine Zeitgenoss:innen verstört.
Allein das Fehlen der Satzpausen stellte zu dieser Zeit noch ein Novum dar, ja, man war es durchaus gewöhnt, zwischen den Sätzen zu applaudieren und sich gegebenenfalls sogar Wiederholungen einzelner besonders eingängiger Sätze zu erklatschen. Schumann schob dem einen Riegel vor, weil er aufgrund der engen thematischen Verflechtung der vier Sätze keinesfalls eine Unterbrechung wünschte. Irgendwie wollte es also (noch) nicht so recht gelingen, Schumann legte die missglückte Symphonie zur Seite und komponierte stattdessen drei weitere.
Erst nach Abschluss der sogenannten «Rheinischen Symphonie», der dritten in der späteren Zählung, nahm er 1851, also zehn Jahre nach ihrer Komposition, die als erste entstandene d-Moll-Symphonie wieder zur Hand und revidierte sie, änderte zahlreiche Details, die Instrumentierung und so weiter. In dieser neuen Form brachte er sie 1853 zur umjubelten neuerlichen Uraufführung und veröffentlichte sie schließlich als Symphonie Nr. 4 d-Moll op. 120. Heutzutage wird übrigens auch manchmal die Erstfassung von 1841 gespielt, womit Clara Schumann gar nicht glücklich wäre, weil sie die Spätfassung vorzog. Mit ihrem lebenslangen Freund Johannes Brahms war Clara oft einer Meinung, aber nicht diesmal: Er favorisierte die Frühfassung, man blieb sich uneins. Die Geschichte gab Clara recht: Die spätere Fassung trug den Sieg davon und beschließt am 8. auch das Grafenegg Festival 2024. Für das Ende der Symphonie ist das freilich unerheblich: In beiden Fassungen behält die – mit Unterstützung des vollen Orchesters – wirbelnde Pauke das letzte Wort.